Warum wir uns mit der Geschichte unserer Nachbarn in Cadenberge beschäftigen
Nicht zuletzt im Zusammenhang mit den in den letzten Jahren zunehmenden Berichten über Angriffe gegen jüdische Einrichtungen und andere antisemitisch motivierte Übergriffe und Straftaten wuchs unsere Aufmerksamkeit für das Schicksal Arthur Samuels und seiner Frau Eugenie, die es offenkundig geschafft hatten, die grausame Zeit des Hitlerfaschismus in Cadenberge zu überleben.
Es musste sich um eine ungewöhnliche Geschichte handeln, die sich damals in unserer Heimatgemeinde abgespielt hat. Darüber wollten wir mehr erfahren.
Gab es Lücken in der Vernichtungsmaschinerie der Nazis? Ist es den Samuels gelungen, sich durch ihr Alltagsverhalten dem Kontrollnetz von Gestapo und SS zu entziehen? Wurde ihnen von Freunden und in der Nachbarschaft geholfen? Oder hat es für das Ehepaar einfach nur eine Reihe von glücklichen Zufällen gegeben?
Nach dem Ende unserer beruflichen Tätigkeiten vor einigen Jahren ergaben sich häufigere Gelegenheiten, um über unsere Kindheits- und Jugenderlebnisse in Geversdorf und Cadenberge zu sprechen. Wir waren daran interessiert, mehr über die damaligen politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen in den Dörfern an der Niederelbe zu erfahren.
Dokumente zum Ehestand; während der Nazizeit ausgestellt und später im August 1952. Die Eheschließung erfolgte im Oktober 1910 in Otterndorf.
(Dokumentiert nach Unterlagen des Niedersächsischen Staatsarchivs Stade, bzw. nach Unterlagen des Archivs des Landkreises Cuxhaven in Otterndorf.)
Offenbarungen und Entwicklungen
Schon bald stießen wir auf eine kleine Fotobroschüre über Gaststätten und Geschäftshäuser in der Umgebung. Dabei fiel uns das Haus „Kronen-Apotheke, Bahnhofstr. 2“ mit einem Hinweis auf den früheren Eigentümer, Arthur Samuel, auf. Diese Information war für uns neu. Zwar kannten wir das Apotheken-Gebäude, weil wir als Kinder häufiger unsere Arztrezepte die kleinen Treppenstufen hinaufgetragen hatten.
Überraschend war jedoch, dass der Bauherr dieses noch heute schönen und markanten Hauses nahe am Ortseingang Arthur Samuel war.
Anfang der 1960er Jahre spielten wir oft vor unserer Haustür im Heideweg mit den Nachbarjungen Fußball, Hockey oder Federball, unterbrochen nur von einzeln durchfahrenden Autos. Aber auch Spaziergänger waren hin und wieder auf der damals noch ungepflasterten Straße in Richtung Wingst unterwegs.
Zu ihnen gehörte regelmäßig ein älterer Herr im Lodenmantel und mit Hut, der seinen Hund, vermutlich einen Airedale Terrier, ausführte. Das war Arthur Samuel, unser Nachbar aus der Osterstraße; ein Jude, wie wir später erfuhren.
Als Kinder hatten wir keine Vorstellung und haben uns keine Gedanken darüber gemacht, wer oder was ein „Jude“ ist. Und es war für uns auch noch nicht die Zeit, in der über die damals noch „jüngste Vergangenheit“, über Nazis, Krieg, Völkermord und Holocaust gesprochen wurde.
Dafür beschäftigen wir uns heute mehr denn je mit all diesen Fragen.
Schon seit geraumer Zeit sammeln wir Daten, Dokumente und Berichte aus dem Leben unserer Nachbarn Samuel und versuchen sie in eine chronologische Reihe zu bringen. Natürlich gestaltet sich diese Arbeit nach fast einem Jahrhundert schwierig. Es gibt keine zusammenhängenden Darstellungen. Auch im Internet sind nur wenige Informationen auffindbar.
Erste Fotos und Zeitungsausschnitte erhielten wir über den Kontakt zum örtlichen Heimatpfleger Günter Lunden. Sehr viel aufschlussreicher war die Einsicht in entsprechende Dokumente, die im Landesarchiv in Stade vorliegen.
Persönliche Erinnerungen und kommunale Zusammenarbeit
Zudem wurde uns bekannt, dass in einigen Cadenberger Familien Erinnerungen an Arthur und Eugenie kursierten; aber auch, dass es kaum noch lebende Zeitzeugen gibt.
So waren wir freudig überrascht, dass sich nach den ersten Veröffentlichungen über unsere Arbeit in der „Niederelbe-Zeitung“ und mit einem Bericht im NDR-Regionalfernsehen ein Kontakt zu dem 98-jährigen ehemaligen Cadenberger Jonny Tiedemann ergab, der als Botenjunge einer Bäckerei die Samuels in der Nazizeit mit Brotwaren belieferte. Vermittelt über den Sohn konnten wir mit diesem Zeitzeugen im vergangenen Jahr noch ein Interview führen; mittlerweile ist Jonny Tiedemann leider auch verstorben.
Ein weiterer Zeitzeugenbericht lag bereits früher aus anderen Quellen vor.
Geradezu als Glücksfall ergab sich dann ebenfalls im vergangenen Jahr die Bekanntschaft mit Henry Irwig, dem Großneffen der Samuels, der heute in den USA lebt und mit dem wir inzwischen im engen Austausch stehen. Wir freuen uns, dass wir ihn dafür gewinnen konnten, sich mit uns gemeinsam als Autor und Herausgeber dieser Website auf die Spurensuche zu begeben. Henrys Erinnerungen und sein Wissen sind für diese Arbeit von unschätzbarer Bedeutung.
Mit ihm zusammen haben wir auch Kontakt zur örtlichen „Schule am Dobrock“ aufgenommen, um vielleicht dort, später im Jahr, mit SchülerInnen ein gemeinsames Projekt für die Erinnerungsarbeit zu gestalten.
Auch der Gemeinde Cadenberge und der Samtgemeinde Hadeln sind wir in besonderem Maße dankbar für das konstruktive Interesse und die Unterstützung bei unseren Bemühungen, mehr zu erfahren über diesen wichtigen Abschnitt des Lebens von Arthur und Eugenie und der gesamten Bewohnerschaft in unserem Heimatdorf.
Dietmar und Rudi (Rüdiger) Zimmeck
Geversdorf/Cadenberge/Hannover
am Jahreswechsel 2022/2023.
In Zusammenarbeit mit
Henry Irwig
Boston, USA