Heute ist es kaum vorstellbar, in welch existenzieller und seelischer Angst und Not sich Menschen im Deutschland zwischen 1933 und 1945 befanden, die von der Nazidiktatur zu Feinden erklärt und zu Opfern wurden. Auch für Arthur und Eugenie Samuel in Cadenberge muss die Machtergreifung Hitlers ein Schock gewesen sein. Eben noch waren sie in der Gemeinde beliebt und angesehen, und beinahe über Nacht veränderte der staatlich verordnete Judenhass ihren Alltag von Grund auf. Die Bauernschaft wurde gezwungen, die geschäftlichen Kontakte zu Arthur einzuschränken oder ganz abzubrechen. Und nur wenige trauten sich noch, der zunehmend aggressiven Hetze gegen das „Judenvolk“ öffentlich zu widerstehen.
Ein Ergebnis war, dass die Einnahmen der Samuels aus dem Viehhandel sanken.

Eidesstattliche Versicherung von Arthur Samuel vom August 1947.
(Quelle: Dokumentiert nach Unterlagen des »Niedersächsischen Staatsarchivs«, Stade)

Wann sich die Eheleute darüber klar wurden, mit welcher Brutalität das Naziregime die Diskriminierung, Verfolgung und Ausrottung der Juden plante, wissen wir nicht. Im Deutschland der dreißiger Jahre mit der Zensur der Presse, der Überwachung durch die Gestapo und der tiefgreifenden Manipulation der Gesellschaft durch die Propagandaindustrie gab es kaum Chancen, sich ein realistisches Bild über die Entwicklung im Staat zu machen. Der Kontakt zu anderen Teilen der jüdischen Familie war erschwert und wenn überhaupt, nur brieflich möglich. Und dazu kam, dass es schon allein wegen der geringen Anzahl der Juden in der Region kaum einen intensiveren Erfahrungs- und Meinungsaustausch mit Gleichgesinnten geben konnte. Arthur Samuel war der einzige Cadenberger Einwohner jüdischen Glaubens. Es sollen in Neuhaus oder Otterndorf noch einzelne Juden gelebt haben. Aber von einer aktiven jüdischen Gemeinde konnte zu diesem Zeitpunkt nicht die Rede sein. Dokumentiert ist, dass zwar 1933 in der nächst größeren Stadt Cuxhaven noch 43 Juden in 12 Familien wohnhaft waren; aber schon 1941 gab es dort niemanden mehr.

Aus der Cadenberger Nachbargemeinde Osten war bekannt, dass die jüdischen Eheleute Julius und Louise Philippsohn nach 1933 dort noch relativ lange lebten. Offenbar plante die angesehene Kaufmannsfamilie auch zwischendurch die Ausreise (oder wohl besser Flucht?) nach Uruguay/Südamerika. Aber ohne Erfolg. Im November 1941 wurde das Ehepaar zusammen mit der Tochter verhaftet, nach Minsk in Weißrussland deportiert und dort offenbar ermordet.

Lizenzentzug und Zwangsarbeit

Amtlich dokumentiert ist, dass Arthur Samuel im Jahre 1937 bei den zuständigen Behörden in Cuxhaven die Ausstellung eines Reisepasses beantragt hat. Ob damit konkrete Ausreisepläne verbunden waren, ist nicht bekannt. Aber es scheint nicht unwahrscheinlich. Denn im gleichen Jahr wurde dem Viehhändler die Lizenz und damit die geschäftliche Lebensgrundlage für die Eheleute entzogen. In Dokumenten ist vermerkt, dass die Samuels ab diesem Zeitpunkt bis zum Frühjahr 1939 ohne jegliche Einkünfte waren.

Unterlagen zu den Entschädigungsanträgen nach dem Krieg verzeichnen, dass Arthur ab 1939 zur Zwangsarbeit im Straßenbau bei der Cadenberger Firma Wehmeyer eingeteilt wurde. Von Januar 1944 bis zum Mai 1945 musste die Zwangsarbeit im Sägewerk Vagts in Wingst/Voigtding fortgesetzt werden. Laut einem Vermerk der Stader Regierungsbehörden betrug sein monatliches Einkommen in diesen Monaten nur rund 100 Reichsmark.

Zeitgleich wurde seiner Frau Eugenie die Arbeit in der Fischindustrie in Cuxhaven zugewiesen. Dort musste sie, immerhin schon im fortgeschrittenen Alter von 60 Jahren, zusammen mit sogenannten „Fremdarbeiterinnen“ vor allem aus Polen und Russland schwere körperliche Arbeit verrichten. Eugenie notierte dazu handschriftlich: „Den Vorgesetzten war bekannt, dass ich die Frau eines Juden war“.

Ärztliche Untersuchungsberichte nach 1945 erläutern detailliert, dass sowohl Eugenie als auch Arthur durch die großen körperlichen Belastungen bleibende gesundheitliche Schäden davongetragen haben.

In Gestapo-Haft und mit dem Judenstern

Ein besonderes Kapitel in der Überlebensgeschichte von Arthur Samuel stellt sein Gefängnisaufenthalt im November 1938 dar. Im Zug der Pogromnacht am 9. November 1938, mit der die Gewaltmaßnahmen gegen Juden weiter verschärft wurden, kam es vom 10. bis zum 29.11.1938 zu einer Inhaftierung im Polizeigefängnis „Karlsburg“ (Bremerhaven/Wesermünde). Im Jahr 1950 schreibt Arthur dazu in einer Erklärung: „Die Freiheitsentziehung beruhte seinerzeit auf Schutzhaft der Gestapo infolge meiner rassischen Zugehörigkeit“. Wie die Verhaftung zustande kam und welchen Umständen es zu verdanken ist, dass es nach drei Wochen wieder zur Entlassung kam, bleibt unklar. Es ist zu vermuten, dass Arthur mit viel Glück dem Schicksal einer längeren Inhaftierung, der späteren Deportation und damit wahrscheinlich der Ermordung entkommen konnte.

(Aus der berüchtigten „Karlsburg“ wurden ab 1940 vor allem internierte Angehörige der Sinti und Roma auch in das Vernichtungslager Ausschwitz-Birkenau deportiert.)

Im September 1941 wurde die Zwangskennzeichnung der Juden angeordnet. Die Verpflichtung den Judenstern zu tragen, wurde zur vorbereitenden Maßnahme für die planmäßige Deportation von Menschen jüdischen Glaubens in Ghettos und Konzentrations- und Vernichtungslager. Das war der Auftakt für den Holocaust.
Durch eine Anweisung des Landkreises Hadeln in Otterndorf wurde auch Arthur Samuel gezwungen, den gelben Stern zu tragen, was er nach eigenem Bekunden auch vom September 1941 bis zum 5. Mai 1945 tat. In einer eidesstattlichen Erklärung nach dem Krieg ist dazu zu lesen: „Aufgrund der gesetzlichen Bestimmungen habe ich den Judenstern getragen. Gleichwohl ist es sehr wahrscheinlich, dass niemand bei mir den Judenstern gesehen hat, da ich an den Arbeitstagen über meinem Anzug, an den der Judenstern angebracht war, einen Arbeitskittel ohne diesen Stern trug und Sonntags nicht ausgegangen bin.“

Im Alltag seien ihm und seiner Frau nur vereinzelte Diskriminierungen widerfahren, berichtet Arthur später.

Eine klare Zuschreibung der Verantwortung der Gestapo für die Deportation aus Osten und eine zweite aus Basbeck haben die Samuels nach dem Krieg formuliert. Aber es überrascht, dass sich in den Unterlagen keine anderweitigen Schuldzuschreibungen oder Namensnennungen von verantwortlichen lokalen NS-Vertretern befinden. In der schon o.g. eidesstattlichen Erklärung von 1947 heißt es sogar wörtlich: „Judenverfolgungen seitens der Partei haben im Landkreis Hadeln nicht stattgefunden.“ Offensichtlich wollte Arthur keine lokalen Nazis denunzieren.

Ob diese generelle „Entlastung“ vielleicht noch korrigiert werden muss oder ob die vermeintlich „milde“ Beurteilung dem Wunsch geschuldet war, das finstere Kapitel möglichst schnell abzuschließen und gemeinsam mit seiner Frau schnell wieder Teil des gesellschaftlichen Lebens in Cadenberge zu werden, bleibt offen. Fest steht nur, dass Arthur Samuel sich unmittelbar nach dem Zusammenbruch für die Gründung eines Komitees der Verfolgten des Naziregimes in der Region einsetzte.
Im Jahr 1949 wurde er als „rassisch Verfolgter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft“ anerkannt; ebenso seine Frau Eugenie.