Die wohl zentrale Frage unserer Spurensuche lautet: Wie konnte es gelingen, dass unser Cadenberger Nachbar, der Jude Arthur Samuel, den Terror und die Brutalität der Nazizeit überlebt hat? Ohne Frage wurde er verfolgt, aber wie haben er und seine Frau überlebt?
Ausführliche Berichterstattung von Michael B. Berger über das Website-Projekt in der „Hannoverschen Allgemeinen Zeitung“ vom 14.09.2022.
(Faksimile des Artikels)
„Begünstigter“ einer Mischehe?
In einer eidesstattlichen Erklärung im Jahr 1947 schreibt der Betroffene selbst: „Meine Frau und ich sind in der Nazizeit, abgesehen von einem Fall, in dem ich in Geversdorf von einer Privatperson beleidigt worden bin, nicht behelligt worden. Ich bin auch mit meiner Frau während des ganzen Krieges in Cadenberge wohnen geblieben. Ich bin offenbar nicht weggeschafft worden, weil ich in einer sogenannten Mischehe lebe. Meine Frau ist nämlich Arierin“.
Genauer hat sich Arthur Samuel nie dazu geäußert und es wurden von uns auch keine Dokumente über die Verfolgung durch die Gestapo gefunden.
Der in Deutschland 1875 zivilrechtlich eingeführte Begriff der Mischehe als Eheschließung zwischen Menschen unterschiedlicher religiöser Konfessionen wurde von den Nazis ausschließlich rassistisch definiert; als Ehegemeinschaft von Menschen jüdischen Glaubens (Rasse) und Angehörigen der nordischen (deutschen) Rasse, den sogenannten „Ariern“.
Heute wissen wir, dass die Mischehe zwar in den ersten Jahren der Naziherrschaft einen gewissen Schutz vor Deportationen für die als „jüdisch“ eingestuften Ehepartner bot, zum Ende des Krieges galt diese Maxime jedoch nicht mehr. So wurden im Februar/März 1945 noch tausende jüdische Ehepartner aus Mischehen ins KZ Theresienstadt verschleppt. Dank des nahen Kriegsendes konnten jedoch die meisten von ihnen überleben.
Zur wichtigen Frage, ob Arthur Samuel deportiert werden sollte, haben wir Ende 2023 einen bedeutsamen Hinweis erhalten.
Die Publizistin Dr. Sabine Pamperrien aus Bremen gab uns den Ausschnitt eines Briefs von Berthold Simonsohn an Carl Katz aus dem Jahr 1965 zur Kenntnis, nachdem sie bei Recherchen zu Carl Katz auf unsere Seite für die Samuels gestoßen war. Simonsohn war als stellvertretender Leiter der in Hamburg ansässigen Bezirksstelle der Reichsvereinigung der Juden in Deutschland unmittelbarer Vorgesetzter des Bremer Gemeindevorstands Carl Katz. Beide waren zwangsweise in den Ablauf von Deportationen eingebunden.
Auch wenn der Brief nicht alle Einzelheiten belegt, so belegt er doch, dass die Namen von Arthur Samuel und seiner Ehefrau Eugenie 1942 auf einer Deportationsliste standen und sie zu den wenigen Menschen gehörten, bei denen eine Rückstellung von der Deportation gelang.
Eugenie war sicher zum jüdischen Glauben übergetreten. Sie kam aus einer evangelischen Familie und hatte keine jüdische Abstammung. Als Konvertitin hätte sie nach den Regeln der Nazis jedoch als Jüdin gegolten. Berthold Simonsohn und Carl Katz konnten anscheinend der Gestapo glaubhaft machen, dass die Samuels in einer Mischehe lebten und damit die Streichung der Namen von der Liste erreichen.
Als 1944 auch die Partner von Mischehen und Mischlinge verschleppt werden sollten, konnten die Samuels diesem Schicksal nochmals entgehen. Ob in dieser Zeit weitere Verschleppungsversuche von der Gestapo gestartet wurden, ist uns nicht bekannt.
Wurde Arthur Samuel versteckt?
In diesem Zusammenhang ist es von Interesse, dass in mündlichen Erzählungen in Cadenberge hin und wieder die Rede davon war, dass MitbürgerInnen dabei behilflich waren, Arthur Samuel im Frühjahr 1945 zeitweise im Waldgebiet der Wingst vor der Gestapo aus Stade oder aus Cuxhaven zu verstecken. Allerdings haben wir an keiner Stelle schriftliche Hinweise zu Versteck-Aktionen weder von Arthur noch von Eugenie oder anderen Beteiligten gefunden; weder in Erklärungen noch in der offiziellen Anerkennung als „Verfolgte des Naziregimes“ oder in den zahlreich vorliegenden Begründungen für Entschädigungsanträge.
Von Interesse könnten Antworten auf die Fragen sein: Woher könnten Arthur Samuel und seine HelferInnen erfahren haben, dass für das Frühjahr 1945 die oben benannte reichsweite Verschleppungaktion für jüdische Ehepartner in Mischehen vorbereitet wurde? Hat es eventuell sogar hilfreiche Tipps aus der Cadenberger Gemeindeverwaltung oder sogar vom Nazi-Bürgermeister Klein gegeben?
Erhellend wäre es auch zu wissen, ob es tatsächlich einen konkreten Verschleppungsversuch seitens der Gestapo gegeben hat. Nach dem heutigen Wissenstand bleiben alle diese Fragen leider unbeantwortet. Nach unserer Einschätzung hat es das Verstecken von Arthur Samuel in der Wingst wohl gegeben. Die Annahme, dass einzig und allein dadurch sein Leben vor dem Zugriff der Gestapo gerettet wurde, erscheint eher unwahrscheinlich, weil es dafür keine konkreten Hinweise gibt.
Welche Rollen spielten Arthurs Persönlichkeit, sein Verhalten und seine Kontakte?
Nach heutiger Kenntnis ist davon auszugehen, dass die organisierten Macht- und Unterdrückungsinstrumente von NSDAP, SA und SS im ländlich geprägten damaligen Kreis Land Hadeln unter Umständen nicht mit der gleichen „Perfektion“ und der gleichen brutalen Agressivität wie in den großen Städten zugeschlagen haben. Gleichwohl darf nicht vergessen werden, dass auch jüdische MitbürgerInnen aus den Nachbargemeinden Basbeck und Osten den Nazi-Schergen zum Opfer fielen.
Auf jeden Fall kann davon ausgegangen werden, dass Arthur Samuel versucht hat, in dieser Zeit so wenig wie möglich Angriffsflächen gegen sich und seine Ehefrau zu bieten. Dabei werden ihm seine Persönlichkeit, die Intelligenz und sein geschicktes Verhalten geholfen haben, mit dem Druck der Staatsmacht den besonderen Erfordernissen entsprechend umzugehen.
Wir denken, dass Arthur die politische Entwicklung der Naziherrschaft realistisch eingeschätzt hat. Er war sich der Bedrohung auch für ihn persönlich bewusst und offenbar hat ihm dies geholfen, immer wieder Wege zur Entschärfung von Problemsituationen zu finden. Ein Beispiel beschreibt er selbst in der schon o.g. Eidesstattlichen Erklärung, in der er erläutert, dass er zwar den Judenstern entsprechend den gesetzlichen Bestimmungen getragen hat, aber immer nur versteckt unter der Jacke oder unter dem Mantel.
Es ist gut vorstellbar, dass er durch diesen „Kniff“ dazu beitragen konnte, Beschimpfungen oder gewalttätige Angriffe gegen sich und seine Ehefrau zu vermeiden.
Durchgängig stand Arthur Samuel zu vielen BürgerInnen im aktiven Kontakt. So ist bekannt, dass er die dringend benötigten Lebensmittel-Pakete von den unterstützenden CadenbergerInnen selbst abgeholt hat und dabei die Gelegenheit genutzt hat, von den mitfühlenden Menschen auch emotionale Impulse zu bekommen, die in der Situation des Ehepaares zum Überleben notwendig waren.
Von der Familie und der Verwandtschaft waren die Samuels aufgrund der politischen Entwicklung weitgehend isoliert. Von dieser Seite war also keine konkrete Hilfe zu erwarten. Und trotzdem wird es ihm geholfen haben, dass er einer Familie mit liberal-jüdischer Erziehung entstammte. Denn dort wurde sicherlich sein empathischer Charakter, sein ethisches Verhalten und sein stets mit Optimismus gefüllter Blick auf die Zukunft geprägt. Das alles wird ihn bestärkt haben weiterzumachen, schwierige Zeiten zu überstehen und an eine bessere Zukunft zu glauben.
Zufall, Glück, Geschick, Charakter, Solidarität – Mehrere Faktoren haben unserer Meinung nach das Überleben von Arthur Samuel ermöglicht.
Es werden mehrere Faktoren gewesen sein, die das Überleben eines jüdischen Mitbürgers in der Nazizeit in Cadenberge ermöglicht haben:
Die feste Verankerung der Samuels in der Dorfgemeinschaft.
Arthurs empathischer Charakter, seine liberal-jüdische Erziehung und sein fester Glaube an die Zukunft.
Die umfassenden Hilfs- und Unterstützungsaktionen durch Cadenberger BürgerInnen.
Die Ehe mit der nichtjüdischen Eugenie.
Seine offenbar anhaltenden Beziehungen zur jüdischen Gemeinde in Hamburg.
Das mit dem Sieg der Alliierten verbundene Ende der Nazi-Herrschaft.
Abseits des großen Weltgeschehens hat das Schicksal in Cadenberge ein Ehepaar vor dem organisierten Massenmord durch das Hitler-Regime bewahrt. Es gibt allen Grund, sich darüber zu freuen und es gibt auch viele Gründe, auf unsere Heimatgemeinde stolz zu sein