Nach dem Sieg der Alliierten über Hitler-Deutschland am 8. Mai 1945 gab es auch an der Niederelbe frühzeitige Bemühungen der britischen Besatzungstruppen, das öffentliche Leben neu zu organisieren. Neben der Ausschaltung und Verhaftung der Nazi-Kader wurde versucht, neue Strukturen für die Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln und das Funktionieren von Transport und Verkehr zu organisieren. Auch gab es das Bestreben, nicht NS-belastete BürgerInnen an der Verwaltung zu beteiligen. Einem Vermerk in der Chronik der Heimatfreunde ist zu entnehmen, dass bereits am 28. Juni 1945 in Cadenberge die erste Sitzung des von den Engländern eingesetzten Gemeinderates stattfand.
„Der Rat bestand aus 9 Personen, unter ihnen auch der Viehhändler Arthur Samuel, der einzige Jude der Gemeinde“. Daraus kann geschlossen werden, dass die Wertschätzung für Arthurs Wirken in Cadenberge erhalten geblieben war und nun nach dem Zusammenbruch des Faschismus auch wieder zum Zuge kam. Der gleiche Grund wird maßgeblich dazu beigetragen haben, dass Arthur Samuel nur eineinhalb Jahre später angetragen wurde, Mitglied im Arbeitsausschuss der Wirtschaftskammer der neu gebildeten Bezirksregierung Stade zu werden.
Diese „Ehrenerweisung“ war allerdings mit einer politischen „Hürde“ verbunden, die zeigt, welche Wirren und Widersprüche unmittelbar nach dem Krieg in Deutschland geherrscht haben: Der von den Nazis verfolgte Cadenberger Viehhändler musste sich dem vorgeschriebenen Entnazifizierungsverfahren unterziehen. Konkret bedeutete dies, in einem mehrseitigen Fragebogen darauf zu antworten, ob man jemals Mitglied der SS, der SA oder etwa Gauleiter oder Ortsgruppenleiter der NSDAP oder in anderen Funktionen in Naziorganisationen tätig war. Nach den Leiden in der Nazizeit muss eine solche Maßnahme für einen Juden eine große Demütigung dargestellt haben.
Der Fragebogen zum „Entnazifizierungsverfahren“ Arthur Samuel von 1945.
(Quelle: Niedersächsisches Landesarchiv, Signatur NLA St Rep. 275 II Nr. 13461. Wir bedanken uns für die Genehmigung)
Frei von Rache
Um so erstaunlicher ist es aus heutiger Sicht, dass in den Unterlagen über die Zeit nach 1945 keinerlei Zeugnisse von Bezichtigung oder gar Rache seitens der Samuels gegenüber den örtlichen Vertretern der ehemaligen Nazidiktatur zu finden sind. Es werden keine Namen genannt und keine personalisierten Vorwürfe erhoben. Im Gegenteil: In Arthur Samuels „Eidesstattlicher Versicherung“ von 1947 finden sich Sätze wie: „Meine Frau und ich sind in der Nazizeit, abgesehen von einem Fall… nicht behelligt worden“ und „Judenverfolgungen seitens der Partei haben im Landkreis Land Hadeln nicht stattgefunden“. In deutlichem Widerspruch dazu steht die offenbar vorhandene Kenntnis über das Schicksal der deportierten jüdischen Familie Philippsohn aus Osten.
Allerdings gilt es zu berücksichtigen, dass diese Gemeinde direkt an der Grenze zum Landkreis Stade gelegen ist. Für uns bleiben heute nur Mutmaßungen über die Beweggründe für Arthurs Angaben. Neben der Vermutung, dass die Perfektion der Diskriminierungs- und Vernichtungsmaschinerie der Nazis durchaus auch Lücken – insbesondere im ländlichen Bereich – gehabt haben könnte, bleibt der Punkt, dass Arthur und Eugenie durch ihr hohes Ansehen aus der Zeit vor 1933 Schutz durch die Bevölkerung womöglich bis hinein in die Kreise der örtlichen Offiziellen erhalten haben. Zudem scheint verbrieft, dass das Ehepaar sich nach den finsteren Jahren der Zwangsherrschaft vorgenommen hatte, nach vorn zu schauen und möglichst schnell wieder im Dorfleben Fuß zu fassen.
Dazu gehörte, dass Arthur auch umgehend wieder seine Tätigkeit als selbstständiger Viehkaufmann und Vermittler aufnahm. Schon ab dem 12.06.1945 wird die erneute gewerbliche Tätigkeit dokumentiert. Aber der weitaus größte zeitliche Aufwand in den folgenden Monaten und Jahren war mit den diversen juristischen Auseinandersetzungen über Anerkennungs- und Entschädigungsverfahren verbunden. Im Staatsarchiv in Stade sind die ausführlichen Schriftwechsel der Samuels und ihrer Anwälte (insbesondere auch der Gebrüder Woest in Cadenberge) mit den Dienststellen beim Landkreis und beim Regierungspräsidenten in Stade dokumentiert. Darin geht es u.a. um die Anerkennung von Arthur und Eugenie als „rassisch Verfolgte der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft“. Ein Bescheid dazu erging vorab im Juni 1949 durch einen Sonderhilfsausschuss beim Landkreis.
Weitere Verfahren folgten: So der Antrag auf Kapitalentschädigung für Schaden im beruflichen Fortkommen in der Zeit zwischen 1937 und 1945, der Antrag auf Zahlung einer Haftentschädigung und die Beantragung einer Erwerbsminderungsrente. All diese Anträge wurden genehmigt; in anderen Punkten lief es weniger glatt. Ein Antrag auf Gewährung einer Aufbauhilfe wurde im Jahr 1951 abgelehnt. Den Grund benennt Arthur in einem Vermerk: „weil angeblich bei meinem Alter von 71 Jahren der Zweck der Darlehensgewährung nicht mehr gegeben sei.“ Ein weiterer Antrag wurde abgelehnt, weil „die Heranziehung zur Zwangsarbeit nicht als Haft gewertet wurde“.
Anträge, Gutachten, Entschädigungen und Rückkehr in die Dorfgemeinschaft
Die umfassenden juristischen Klärungen zogen sich zum Teil über viele Jahre hin und waren mit einem sehr großen Aufwand an Schriftverkehr, Behördengängen, Erklärungen sowie mit der Beibringung von Zeugen und Gutachten verbunden. Uns liegt unter anderem ein achtseitiges ärztliches Untersuchungsergebnis des Israelitischen Krankenhauses in Hamburg aus dem Jahr 1957 vor. Darin wird bescheinigt, dass Arthurs Gesundheitszustand durch Arthrose, Deformation eines Hüftgelenks und der Wirbelsäule, Durchblutungsstörungen, Schwerhörigkeit und andere Gebrechen erheblich beeinträchtig war. Die Ärzte stellen fest, dass Teile dieser Leiden direkt „aufgrund der ihm auferlegten schweren körperlichen Belastung während der Zwangsarbeit“ zurückzuführen seien.
Ein besonderes Ereignis war es, als im Jahr 1951 in Cadenberge endlich wieder die Apotheke eröffnet wurde. Und zwar im selben Wohn- und Geschäftshaus in der Bahnhofstraße 2, das die Samuels im Jahr 1927 erbauen ließen und das sie 1939 verkaufen mussten. Dazu erinnern wir an eine Bemerkung der Cadenberger Zeitzeugin Christa Voit in einer Veröffentlichung der „Niederelbe Zeitung“. Demnach hatten die englischen Besatzer Arthur Samuel nach Kriegsende angeboten, dass er das Haus (heutige Kronen-Apotheke) zurückerhalten könne. Er habe dies jedoch mit der Begründung abgelehnt, dass der seinerzeitige Verkauf gültig sei und er wolle, dass in Cadenberge wieder eine Apotheke betrieben wird; was zur damaligen Zeit keinesfalls eine Selbstverständlichkeit war.
Arthur und Eugenie wohnten mittlerweile im Haus Osterstraße 3 (früher Ostermoor 32). Dort verstarb Eugenie im Jahr 1956 und für Arthur wurde das Leben einsamer. Die Kontakte wurden weniger. Viele seiner Verwandten waren von den Nazis ermordet; einige andere hatten zwar im fernen Ausland überlebt, aber zum Teil waren die Adressen nicht bekannt, die Kommunikation war beschwerlich. Um so mehr müssen zwei Ereignisse in den folgenden Jahren für Abwechslung und große Freude im Cadenberger Alltag gesorgt haben:
Im Jahr 1961 wurde Arthur (zum zweiten Mal nach 1930) Schützenkönig in der Gemeinde. Für ihn, der sich stets für die Gemeinschaft mit anderen und für das Vereinswesen eingesetzt hat, wird diese Auszeichnung eine besondere Ehre gewesen sein. Noch heute ist in einer Vitrine in den Räumen des Schützenvereins am Rande des alten Gutsparks die Plakette mit dem Eintrag des Datums zu besichtigen.
Und im Jahr 1964 kam der damals 21-jährige Student Henry Irwig, ein Enkel von Arthurs Schwester Emilie aus Südafrika, für einige Tage zu Besuch nach Cadenberge. Und so gab es zumindest im hohen Alter für Arthur noch einmal die Gelegenheit zu persönlichen Gesprächen mit einem nahen Verwandten.
Aus Arthurs letzten Lebensjahren sind in der Nachbarschaft nur die regelmäßigen Spaziergänge mit seinem Airedale Terrier bekannt. So wie er auch uns als im Heideweg spielenden Kindern in Erinnerung geblieben ist; im karierten Jackett und im Winter mit Lodenmantel, stets mit Hut oder Mütze gut gekleidet. Ansonsten lebte Arthur eher zurückgezogen in der Osterstraße, bevor er, vermutlich weil die eigene Haushaltsführung trotz Hilfestellung zu beschwerlich wurde, in das damalige Kreisaltersheim in Ihlienworth umgezogen ist, wo er im Jahre 1971 im Alter von 91 Jahren verstarb.