Konnte es erwartet werden, dass in der Nazizeit in Cadenberge einem verfolgten Juden und seiner Ehefrau echte Hilfe und wirksame Unterstützung zuteil wurde?
Wenn wir in Geschichtsbücher über die Zeit von 1933 bis 1945 schauen, dann gibt es dort auch immer wieder Erzählungen von Menschen, die große Risiken eingegangen sind, um jüdische Kinder, Frauen und Männer mit Lebensmitteln zu versorgen, ihnen Unterkunft zu gewähren oder sie zu verstecken. Aber offensichtlich war es nur eine kleine Minderheit, die das dafür notwendige Mitgefühl und den Mut besaßen. In Cadenberge hätten wir dies nicht unbedingt erwartet; aber es scheint doch eine erstaunliche Zahl von Bürgerinnen und Bürgern gegeben zu haben, die Arthur und Eugenie Samuel wichtige Hilfe zum Überleben geleistet haben.
Nach dem Entzug der Viehhandelslizenz im November 1937 hatte sich das Einkommen von Arthur dramatisch verschlechtert. Die Situation kam einem Berufsverbot gleich und das Ehepaar sah sich abrupt vor dem Problem, selbst die notwendigsten Lebensmittel nicht mehr bezahlen zu können. Arthur Samuel wurden Zwangsarbeiten bei örtlichen Baufirmen und Sägewerken zugewiesen. Sein „Verdienst“ betrug 100 Reichsmark im Monat. Das reichte nicht zum Überleben. Eugenie war gezwungen, in der Fischverarbeitung in Cuxhaven Schwerstarbeit zu leisten, um etwas dazu zu verdienen, aber auch das reichte nicht.
Die Unterstützung beginnt
In dieser schwierigen Lage gab es heimliche Unterstützung von Bürgerinnen und Bürgern und auch von Geschäftsleuten aus Cadenberge.
Über eine dieser Hilfeleistungen berichtete der Zeitzeuge Jonny Tiedemann (geboren 1925 in Steinau), mit dem wir im Oktober 2021 noch ein Interview führen konnten.
Herr Tiedemann war als Jugendlicher zwischen 1938 und 1939 als Austräger für die Bäckerei Tönjes tätig. Wöchentlich lieferte er eine Brötchenbestellung an die Samuels aus, die in dieser Zeit über dem Sägewerk Vagst (in Wingst) wohnten. Arthur Samuel war dort zeitweise als Hilfsarbeiter/Zwangsarbeiter beschäftigt.
Die Brötchenlieferungen wurden von dem Ehepaar bezahlt. Aber hin und wieder befanden sich in der Auslieferung auch eingewickelte Päckchen, deren Inhalt Jonny
Tiedemann nicht kannte und für die es keine Bezahlung gab. Zu diesen „Extrapäckchen“ gab es seitens der Bäckerei keine Anweisungen oder Kommentare. Jonny Tiedemann vermutete jedoch, dass die Besitzer den Samuels in diesen „kostenlosen“ Päckchen Brot oder auch andere Lebensmittel als Spende zukommen ließen.
(Jonny Tiedemann ist leider im Jahr 2022 verstorben, der Wortlaut des gesamten Interviews ist im Archiv beigefügt.)
Auch über weitere Geschäftsleute und Personen, die Unterstützung geleistet haben, gibt es Informationen. So ist bekannt, dass Arthur Samuel den Gemischtwarenladen von René Zahrte in der Langenstraße häufiger nach Feierabend aufgesucht hat. Dabei benutzte er den Hintereingang, um die Lebensmittel in Empfang zu nehmen und trat nach einiger Zeit mit Tragetaschen und Beuteln ausgestattet wieder den Heimweg an. Ähnlich lief die Hilfe bei anderen Geschäftsleuten ab, ebenfalls in der Langenstraße.
Auch in einer anderen – nicht von uns durchgeführten – Zeitzeugenbefragung wurden weitere unterstützende Personen benannt.
Wir haben den Eindruck, dass in etlichen Cadenberger Familien die Lebensumstände von Arthur und Eugenie Samuel bekannt waren und sind. Es wäre interessant zu erfahren, ob Urgroßeltern, Großeltern oder Eltern dazu Hinweise gegeben haben, und dass dadurch möglicherweise in Gesprächen und Befragungen noch weitere Einzelheiten über die Hilfestellung in Erfahrung zu bringen wären.
Wie groß war das Risiko für Personen, die Hilfe geleistet haben?
Auffällig ist, dass die Geschäftsleute bei der Lebensmittelübergabe und der Versorgung der Eheleute Samuel keine besonders aufwändige, sondern eher nur eine „einfache Tarnung“ ihres Tuns vorgenommen haben.
Waren sie leichtfertig, mutig oder haben sie die politische Situation realistisch eingeschätzt?
Wenn der Nazi-Bürgermeister Klein, die Polizei oder die Ortsgruppe der NSDAP in Cadenberge willens gewesen wären oder wenn ein Nachbar diese Unterstützung angezeigt hätte, dann müsste es ein Leichtes gewesen sein, alle Beteiligten zu ermitteln und nach dem rassistischen Nazi-Unrecht zu bestrafen.
Vermutlich jedoch wurde damals die Unterstützung der Eheleute Samuel durch die Bevölkerung als wirklich bedeutend angesehen. So könnte es der örtlichen Naziführung als zu riskant erschienen sein, dagegen vorzugehen. Es scheint unwahrscheinlich, dass den politisch Verantwortlichen in einer „überschaubaren“ Gemeinde wie Cadenberge die Hilfen nicht bekannt waren. Wahrscheinlicher ist es, dass sie einfach nur geduldet wurden.
Warum haben viele Bürgerinnen und Bürger aus Cadenberge Arthur und Eugenie ohne Aufforderung so intensiv unterstützt?
Nach über 80 Jahren ist es nicht ganz einfach, die Motive für diese Hilfen zu erkennen und zu benennen. Es leben kaum noch Zeitzeugen, die man befragen könnte und es gibt nur wenige schriftliche Aufzeichnungen, in denen diese Zusammenhänge eine Rolle spielen.
Vielleicht kommt diese kurzbiografische Betrachtung einer Antwort näher:
Arthur und Eugenie Samuel haben bis zum Zeitpunkt der wichtigen Hilfestellungen seit über 20 Jahren in Cadenberge gelebt und gearbeitet. Arthur hatte durch seinen Beruf einen großen Kontaktkreis zu einer Vielzahl von Bauern, Händlern, Kaufleuten und Bürgern aufgebaut. Alle schätzten sein freundliches Wesen und seine fairen Handelsgeschäfte. Darüber hinaus war er am Gemeinwesen interessiert, war Mitglied im Schützenverein (1930 Schützenkönig) und unterstützte die Jugendlichen in Cadenberge. Das Ehepaar Samuel hatte ein offenes Haus und sie waren gute Gastgeber.
Die als Privatinitiative am heutigen Apothekengebäude angebrachte Gedenktafel. Da nach unserer Kenntnis das Gebäude 1939 vom Tierarzt Dr. Warnecke übernommen wurde, ist davon auszugehen, dass Arthur und Eugenie auch bis zu diesem Zeitpunkt dort gewohnt haben .
(Foto privat)
Man kann mit Fug und Recht sagen, dass Arthur und Eugenie einen festen Platz in der dörflichen Gemeinschaft hatten. Arthurs jüdische Herkunft wurde akzeptiert und „störte“ dabei nicht.
Offenbar sind diese vertrauensvollen und auf gegenseitiger Achtung basierenden Beziehungen lange tragfähig und verändern sich in der Regel auch nicht in schwierigen Zeiten, wenn ein neues, politisches Gewaltsystem wie die Nazi-Herrschaft installiert wird.
In Cadenberge wurden Mitmenschlichkeit und Zivilcourage gelebt.
Arthur und Eugenie gehörten zu Cadenberge und wurden deshalb von vielen unterstützt, ganz entgegen den Absichten des Naziregimes. Das ist die erste Antwort auf die zentrale Frage: Wie konnte der Jude Arthur Samuel die Nazizeit in Cadenberge überleben? Andere Aspekte werden in den weiteren Kapiteln angesprochen.